Weitwinkel statt Tunnelblick: Entspannter mit Achtsamkeit

Die digitale Revolution ist eine historische Umbruchphase, die nicht nur viele Chancen bietet, sondern die Menschen auch vor große Herausforderungen stellt. Wer immer online, stets erreichbar, weltweit vernetzt und internationaler Konkurrenz ausgesetzt ist, läuft Gefahr, auf dem Datenhighway unter die Räder zu kommen, in der Informationsflut zu ertrinken. Der „Schneller-höher-weiter“- und „Alles-ist-möglich“-Euphorie der digitalen Gründergeneration steht eine steigende Zahl psychischer Erkrankungen in den Industrienationen gegenüber, die oft auf mentale Überforderung zurückzuführen sind und unter dem Begriff „Burnout“ zusammengefasst werden.

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Diese Entwicklung fördert einen neuen Trend: das Bedürfnis nach Spiritualität und Entschleunigung des hektischen Lebens durch eine achtsamen Umgang mit den eigenen Kräften. Entspannung; den Moment genießen können in einer Zeit, in der immer weniger von Dauer zu sein scheint; die leeren Energiespeicher wieder auffüllen und sich dabei auf die eigenen inneren Kräfte besinnen – das sind Werte, die zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Auf den Moment fokussieren

Vor diesem Hintergrund erleben alte fernöstliche Meditationstechniken – in verschiedenen Ausprägungen an die Erfordernisse der Moderne angepasst – eine Wiedergeburt. Ein Beispiel ist die bereits Ende der 1970er-Jahre in den USA von dem Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn entwickelte „Mindfullness-Based Stress Reduction“, kurz MBSR (zu Deutsch „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“). Im Wesentlichen geht es beim Prinzip der Achtsamkeit darum, die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment zu lenken, Gedanken an Vergangenheit und Zukunft auszublenden und das oft belastende „Gedankenkarussell“ anzuhalten.

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Längerfristig lassen sich mit derartigen Techniken – werden sie unter fachkundiger Anleitung erlernt – eingeschliffene Denkmuster und Verhaltensweisen ändern, die oft belastend und energieraubend auf uns wirken. Im Unterschied zu bloßer Konzentration, bei der die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Betrachtungsgegenstand fokussiert ist, zielt Achtsamkeit auf eine „weit gestellte“ und hellwache Offenheit für die ganze Bandbreite gegenwärtiger Wahrnehmung. Längst ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass Achtsamkeitspraxis und die damit erzielte innere Balance einen wichtigen Beitrag zu einer gesunden Lebensführung leisten kann. Die positiven Effekte sind vielfältig:

Achtsamkeit

  • führt zu einem klareren Verständnis von sich selbst
  • ermöglicht den Zugang zu den eigenen inneren Kräften und das Erweitern selbst gesteckter Grenzen
  • beruhigt und stabilisiert den Geist: man wird nicht mehr von Gedankenströmen „aufgefressen“
  • erhöht die Widerstandskraft gegenüber seelischen Belastungen, Stress-Situationen und schwierigen Lebensumständen („Resilienz“)
  • fördert die Geduld mit sich selbst und erhöht damit die Selbstakzeptanz
    lässt einen weniger ängstlich und deprimiert sein
  • verbessert die eigene Impulskontrolle und lässt einen nicht mehr so schnell „aus der Haut fahren“
  • lenkt negative Emotionen in sinnvolle Kanäle
  • ermöglicht selbstbestimmtes und -bewusstes Handeln
  • erleichtert es selbstbewusst, aber freundlich Grenzen zu setzen
  • hilft dabei, mehr Gelassenheit, Stabilität, Souveränität und Lebensfreunde zu gewinnen – und auch in schwierigen Lagen zu behalten

Deshalb wird das Prinzip der Achtsamkeit zur Therapie und Prävention bei einer Vielzahl von psychischen und auch körperlichen Leiden eingesetzt, vor allem zur Stressbewältigung. Auch verschiedene Meditations- und Yoga-Techniken arbeiten mit dem Prinzip der Achtsamkeit.

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Ein angeleitetes Achtsamkeitstraining in Form eines Seminars dauert in der Regel etwa acht Wochen. In einer Vielzahl von Übungen lernen die Teilnehmer, dem Moment mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als wir das heutzutage gemeinhin tun. Ziel ist es also, im Trubel des Lebens öfter einmal kurz innezuhalten und sich zu fragen „Was mache ich gerade? Wie geht es mir dabei?“, und diese Übung zu einem festen Teil der eigenen Lebensführung zu machen. Eine solche Weitung der Sicht auf das eigene Leben ist ein guter Schutz gegen den stressbedingten „Tunnelblick“, der uns manchmal unter Belastung unsere Möglichkeiten nur noch eingeengt und verzerrt wahrnehmen lässt – was zu Energievergeudung, Fehlern, Frustration und letztlich zu seelischer Erschöpfung führt.

Erholungstrip durch Bilderwelten

Mit ein wenig Selbstdisziplin lässt sich Achtsamkeit aber auch im Alltag einüben. Man kann zum Beispiel damit beginnen dreimal am Tag jeweils eine Minute achtsam zu sein, sich dabei darüber klar werden, wie man sich gerade fühlt, bewusst atmen, beim Essen jeden Bissen bewusst genießen, in den eigenen Körper hinein hören, sich in sich selbst versenken. Später dehnt man diese Phasen der Achtsamkeit auf dreimal eine Minute am Vormittag und dreimal eine Minute am Nachmittag aus. Mit dieser Technik lässt sich auch dem ungeliebten Leerlauf an der roten Ampel, an der Supermarktkasse oder im Wartezimmer etwas Positives abgewinnen.

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Entspannung – und damit Stressreduktion – fängt im Kopf an. Wer das Gefühl hat, allzu oft „per Autopilot“ durch sein Leben zu düsen, der muss wieder selbst das Steuer übernehmen. Dabei kann nicht nur der Blick nach innen, sondern auch die visuelle Wahrnehmung nach außen helfen. Denn auch ein gutes Foto kann entspannend wirken: die glatte Wasseroberfläche eines Sees, ein malerischer Sonnenuntergang an einem idyllischen Ort, der im Morgenlicht glitzernde Tautropfen auf einem Grashalm, die raue Schönheit einer wilden Landschaft – nur ein paar Beispiele für Motive, die uns wieder in Beziehung bringen mit unseren Wurzeln. Sie erinnern uns Menschen daran, dass wir auch im hochtechnisierten 21. Jahrhundert sind, was wir immer waren: fühlende Wesen aus Fleisch und Blut und Geschöpfe der Natur.

© Valentin Weinhäupl/Westend61

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