Ecken und Kanten: Markante Linien geben Fotomotiven Profil

Linien haben in der Fotografie eine wichtige Funktion: Sie lenken den Blick des Betrachters auf das Hauptmotiv und helfen ihm so die Botschaft des Bildes schneller aufzunehmen und zu verstehen. In einem früheren Beitrag haben wir uns hier bereits in allgemeiner Form mit der Wirkungsweise und Funktion von Linien befasst. Heute wollen wir uns dem Thema einmal unter einem etwas spezielleren Blickwinkel nähern, wenn wir uns ansehen, wie Ecken und Kanten in einer Fotografie wirken können.

Diese Form der Linienführung begegnet uns besonders häufig bei Motiven aus den Themenfeldern Architektur, Technik und Verkehr. Solche Motive zeigen vom Menschen erschaffene Strukturen und Ordnungen. Ihr augenfälligstes Merkmal – im Unterschied etwa zu Porträt- oder Landschaftsfotografie – ist das gehäufte Vorkommen mathematisch exakt gezogener, gerader Linien. Je nachdem, in welchem Winkel solche Ecken und Kanten das Bild durchziehen und wo im Bildaufbau sie platziert sind, bewirken sie einen mehr oder minder starken dynamischen Effekt.

Als Diagonalen wirken Kanten je nach Richtung positiv und aufstrebend oder fallend und abwärtsgerichtet. Eine schräge Linie erweckt meist einen Eindruck von Unruhe und Dynamik. Verstärkt wird dieser Effekt, wenn solche Linien mit einem bewegten Motiv, also beispielsweise einem laufenden Sportler, kombiniert werden.

© Daniel Ingold/Westend61

In vielen aus der Froschperspektive aufgenommen Bildern von Gebäuden begegnen uns diagonale Kanten in Gestalt von stürzenden Linien, die den Eindruck überwältigender Größe verstärken.

Waagrechte Kanten hingegen wirken eher statisch und können schnell langweilig erscheinen. Deshalb kombiniert man sie oft mit weiteren waagrechten Linien oder belebt das Bild mit einem Objekt mit unregelmäßigeren Linien oder auch mit einem unruhigen Himmel. Ziehende Wolken sind bei Architekturaufnahmen ein beliebtes Mittel zur Auflockerung und Belebung strenger Formen, erzeugen die Himmelsgebilde doch einen interessanten Kontrast zwischen menschlicher Ordnungsstruktur und der Unbeherrschbarkeit der Natur. Dieses Gestaltungsmittel begegnet uns in verschiedenen Variationen, die alle ihren eigenen Reiz haben: Wolken, die sich in einer verglasten Hochhausfassade spiegeln;

© SEBASTIAN GAUERT/Westend61

in Gestalt locker dahinsegelnder Schäfchenwolken, die einen streng-geometrischen Bildaufbau auflockern;

© CARMEN STEINER/Westend61

oder auch als vom frischen Wind zerzupftes Gewölk, das unruhig über den großen Finanztempeln mit ihrem imposanten, fast einschüchternden Erscheinungsbild dahinzieht und daran erinnert, dass nichts für die Ewigkeit gebaut ist.

© SEBASTIAN GAUERT/Westend61

Wer dann so seine Zweifel bekommt über dies und das, dem geben senkrechte Linien im Bildaufbau vielleicht wieder etwas Halt, denn solche Kanten erzeugen den Eindruck von Stabilität, Vitalität und energischem Vorwärtsdrang. Ein interessantes Beispiel ist dieses Bild, denn es kombiniert das Moment der Stabilität, das in der zentral platzierten Säule zum Ausdruck kommt, mit dem Moment rascher Bewegung durch die fahrenden U-Bahnen links und rechts davon. Diagonale Linien, die auf einen hinter der Linie verborgenen Fluchtpunkt zulaufen, erzeugen zusätzliche Spannung, indem sie in der Bildmitte sozusagen ein unsichtbares Fragezeichen für den Betrachter zurücklassen.

© STEFAN KUNERT/Westend61

Wo Kanten sind, da sind meist auch Ecken, nämlich dort, wo Linien ihre Richtung ändern oder in einem bestimmten Winkel aufeinandertreffen. Dieses Gestaltungsmittel eignet sich ebenfalls gut zum Aufbau von Spannung. Das gilt besonders, wenn zwei Linien in gegenläufiger Richtung aufeinandertreffen, so wie die absteigende und die aufsteigende Linie der Gebäudekante in diesem Bild.

© VISUAL2020VISION/Westend61

Hier wird die Wirkung noch erhöht durch die hier weniger Stabilität denn Dynamik vermittelnde senkrechte Linie in der Bildmitte unten und den am Himmel dahin sausenden Jet darüber.

Gebogene Kanten vermitteln im Kontrast zu all dieser nüchternen Geradlinigkeit und Zielstrebigkeit ein Gefühl von Ruhe und Geborgenheit. Denn gebogene Linien wirken mit der Öffnung nach oben aufnehmend und offen, mit der Öffnung nach unten beschützend und geschlossen. In diesem Bild haben wir beide Formen harmonisch vereint.

© HUBERSTARKE/Westend61

Reizvoll ist auch das Mit- und Nebeneinander von geraden und gebogenen Kanten – vor allem, wenn sie auch noch perspektivisch und farblich voneinander abgesetzt sind wie hier.

© TIMO WEIS/Westend61

Im Unterschied dazu sind rechtwinklige Linien konstruktiv und exakt und erwecken beim Betrachter den Eindruck von mathematischer Präzision und nüchterner Kalkulation. Damit sie nicht zu statisch und damit langweilig wirken, werden sie gerne mit diagonalen Linien kombiniert – oder auch mit einer Person, die buchstäblich Leben in solch eine triste Bude bringt.

© Jo Kirchherr/Westend61

Das Gegenteil ist das scheinbar regellose Wirrwarr von Linien und Kanten auf diesem Bild, in dem man erst bei näherem Hinsehen eine sinnvolle Struktur erkennt. Es erweckt Unruhe beim Betrachter und lässt vermuten, dass die Dame mit dem Smartphone wohl gerade versucht, die Übersicht über einen mit Terminen und Verpflichtungen vollgestopften Tag zu behalten.

Businesswoman looking at smartphone in modern architecture

Auch geradlinige farbliche Abtrennungen wirken auf den Betrachter wie optische Kanten, so wie auf diesem Bild, wo die warmen Farbtöne eine öde Wand zum Hingucker machen und gut zur offenkundigen guten Laune der jungen Frau passen.

@ Valentina Barreto/Westend61

Sogar die Linien schlicht-funktionaler Hinweispfeile auf dem Asphalt können als Hintergrund attraktiv sein, wenn sie aus der richtigen Perspektive aufgenommen werden.

© Daniel Ingold/Westend61

Man sieht: Mit prägnanter Linienführung, markanten Brüchen und optischen Trennern lassen sich Bilder nicht nur „aufräumen“ und klar in Vorder- und Hintergrund gliedern, sondern schlichtweg interessanter gestalten. Denn was für Menschen gilt, gilt in gewissem Maß auch für Fotos: Nur wer ein paar Ecken und Kanten hat, der hat auch Profil. Und das muss eine gute Fotografie haben, um sich vom Überangebot durchschnittlichen Bildmaterials abzuheben.

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Hubertus Stumpf

Hubertus Stumpf weiß als langjähriger Zeitungsredakteur, dass ein guter Text nur die halbe Miete ist, wenn es darum geht, die Aufmerksamkeit der Leser zu gewinnen – genauso wichtig ist ein gutes Bild, das den Betrachter in den Text zieht. Der studierte Germanist ist ein Mann der schreibenden Zunft, beschäftigt er sich aber seit einiger Zeit auch verstärkt mit den Möglichkeiten der Digitalfotografie.